Wieder einmal saß ich versonnen vor meinem PC in meinem Redaktionsbüro, werkelte an einer hochinteressanten Reportage über Zahncreme für Delfine, mit Waldmeistergeschmack. Na ja, in der Not muss ein Autor halt nehmen, was sich bietet. Und in diesem Falle war ich mir sicher, dass ich journalistisches Neuland betrat und den Kollegen einen Schritt voraus war. Außerdem lag es am Thema, das irgendwie mit dem Meer zu tun hatte. Seit jenen Tagen, als mich ein kleiner Krake namens Plitsch-Platsch besucht hatte - wie der Leser sich vielleicht noch erinnern mag -, spürte ich eine enge Beziehung zum Wasser - dem Ursprung allen Seins. Woher sind wir gekommen - wohin gehen wir. Diese Fragen ließen mich nicht mehr los, hatten mich geradezu in ihren Klauen wie ein Tintenfisch in seinen Tentakeln. Womit wir hier abermals fast beim Thema wären. Selbst nachts, wenn ich es mir zwischen zwei anstrengenden Arbeitstagen hier in Berlin am Prenzlauer Berg im Bett bequem machte, verfolgte mich das Meer selbst noch in meinen Träumen. Einmal vertrieb ich angriffslustige Hammerhaie mit einem kräftigen Kinnhaken. Dies gelang komischerweise, obwohl die lieben Tierchen nicht mal ein Kinn haben. Na ja, es war ja eben nur ein Traum. Ein anderes Mal rettete ich einen jungen Tümmler, der sich in einem Fischernetz verfangen hatte und schwamm mit einer ganzen Schule Buckelwale um die Wette.
Und eines Nachts passierte etwas Seltsames. Gerade flirtete ich mit einer äußerst attraktiven Meerjungfrau, als ich ein zögerndes Klopfen vernahm. Erschrocken fuhr ich auf, doch nur nächtliche Stille. Kopfschüttelnd suchte ich die junge Nixe in meinen Träumen wieder, was mir aber nicht gelang. Offenbar war sie sauer, dass ich mich verdrückt hatte. Ein erneutes Klopfen schreckte mich so richtig hoch. Leise stand ich auf, schlurfte in meiner kleinen Mansardenwohnung am vollbepackten Schreibtisch vorbei und näherte mich dem kleinen, hohen Fenster. Wollte doch mal nachkucken, ob das Geräusch von draußen kam. Mich beschlich ein ganz bestimmter Verdacht. Mit einem Schwung riss ich den graubraunen Vorhang beiseite und - zwei kleine Glupschaugen schauten mich verschämt an, und ein kleiner Tintenfisch mit wässrigblauer Haut winkte mir schüchtern zu.
Schnell öffnete ich das kleine Fenster, klappte es auf, lud das kleine Meerestier auf
meinen Arm und setzte es behutsam auf den alten roten Teppich ab. Schmunzelnd beugte ich mich
hinunter, gab meinem kleinen Freund herzlich die Hand - eigentlich reichte er mir eines seiner
vielen Tentakeln.
"Ja, grüß dich, Plitsch-Platsch! Wie geht's denn so?"
"Ja, hallo", piepste eine mir sehr vertraute Stimme von unten.
"Ich freue mich auch, dich zu sehen. Und entschuldige, wenn ich dich hier so einfach
überfalle", sagt's und erbläute wieder - da, wo ein Mensch selbstverständlich
erröten würde.
"Ach, das macht doch nichts", entgegnete ich, "es ist ja nur Drei Uhr in der
Früh. Aber was gibt's denn? Oder wolltest du nur kurz 'Hallo!' sagen?"
"Na ja", säuselte die kleine laufende Meeresfrucht, "eigentlich wollte ich
dich mal auf einen Gegenbesuch einladen. Weißt du noch?"
"J-ja", presste ich etwas zögerlich heraus, leise ahnend, was mir bevorstand.
"Eben! Und jetzt ist es soweit!"
"Ah ja! Aber sag mal, kann ich dir vielleicht etwas anbieten?"
Vorsichtig versuchte ich, das Thema zu wechseln.
"Ich durchschaue dich. Du wechselst geschickt das Thema", forschte Plitsch-Platsch.
"Oh - weißt du", peinlich berührt errötete ich. (Der Leser mag mir
verzeihen, dass es mir an dieser Stelle nicht gelang, zu erbläuen.)
"Okay, du liegst ja richtig", lachte ich.
"Also … "
"Weißt du", unterbrach mich der Zwergkrake, "ich habe tatsächlich
Hunger und Durst. Weißt du noch, was uns Tintenfischen besonders gut schmeckt?"
"Lass mich mal nachdenken!"
Aus meinen Augenwinkeln nahm ich war, wie mein kleiner Freund auf die Whiskyflasche und die
Marlboro schielte.
"Nein! Nein! Das war es wohl nicht", sinnierte ich, nutzte die Chance, beides mit
einer schnellen Handbewegung zu retten.
"Ja, ich hab's! Es waren die Corn Flakes mit viel Milch! Stimmt's oder hab ich
recht?"
"Beides! Aber das braune Gesöff hätte ich auch genommen!"
Worauf er zu mir watschelte und mit einem seiner Gliedmaßen mein linkes Bein umfasste. Ich
kraulte ihn am äußerst weichen Kopf. Das brachte ihn zum Kichern. Es hörte sich
an, als ob die Englein sängen.
"Nu ist aber gut. Also her mit den Mais Flakes und ein bisschen Zack-Zack, wie wir Seeleute
so sagen."
"Hey, hey! Nicht so schnell! Kommt ja schon!"
Während ich die Mahlzeit für meinen Freund zubereitete, versuchte ich mir
vorzustellen, was er von mir wollte.
Oder war es nur ein Höflichkeitsbesuch?
Schließlich saß Plitsch-Platsch auf der Bettkante, schlug begierig die Maisspeise
herunter. Er musste extrem hungrig sein.
"Also, weshalb ich hier bin, ist - ach, könnte ich wohl noch eine Serviette
haben?"
Verstohlen sah er Richtung Regal, wo ich einige dieser Papiertücher aufbewahrte.
Ich reichte ihm eine, worauf er seinen Krakenmund nach diesem Mahl genüsslich
säuberte.
"Ja, also! Ich möchte, dass du diesmal mitkommst! Weil ich deine Hilfe
brauche!"
"Aha!", machte ich.
"Ja, ich lebe mit meiner Familie in der Titanic, einem eurer Schiffe!"
Vor Staunen fielen mir fast die Augen aus den Höhlen.
"Und jetzt müssen wir uns gegen räuberische Mantas verteidigen. Hilfst du
uns??"
Äußerst verlegen blickte ich zu Boden. Diese Offerte kam mir zeitlich und auch aus
anderen Gründen sehr ungelegen. Was tun?
Plitsch-Platsch versuchte, meinen Blick aufzufangen.
"Versuch es doch wenigstens, okay?"
Langsam kroch er zu mir herüber. Legte zwei seiner glitschigen Tentakel auf mein Knie.
"Na, ich weiß nicht", entfuhr es mir.
"Na, gut. Du hast es so gewollt. Ich halte jetzt so lang die Luft an, bis …
!"
"Bis ??" bohrte ich nach.
"Das weißt du doch selbst gut genug", prustete es aus Plitsch-Platsch heraus.
Da schlossen sich die rosaroten Äuglein sanft und sein Mund wurde zu einem Strich.
Und nicht ohne Folgen: Sein sanftblauer Teint verdunkelte sich abrupt.
"Hey, hey, hey. Is' ja gut!"
Doch er wurde immer blauer, pfiff bereits auf dem letzten Loch, so schien es.
Da packte ich den kleinen Kerl, schüttelte ihn.
"Also gut. Hör auf damit!!"
Schlagartig öffnete sich sein linkes Auge, wohl zu überprüfen, ob ich es ernst
meinte.
"Na gut, Eure Bläuheit! Ich komme mit und sehe mir alles an", hörte ich mich
sagen.
"Aber sag mal, wie kommen wir denn da hin? Außerdem habe ich Lungen wie die Wale,
kann unter Wasser nicht atmen", gab ich zu Bedenken.
"Ach deshalb! Das macht nix", nickte er eifrig. "Bei uns im Boot kriegst du ohne
Probleme Luft! Wirst sehen!"
Tätschelnd berührte er meine Schulter.
"Und, wenn du mal zum Fenster rausschaust, weißt du auch, wie wir reisen
werden."
Neugierig steckte ich meinen Kopf ins Freie, erblickte vor meiner Nase etwas Großes, mit
ungewöhnlicher Form.
Nachdem ich meine alte, flackernde Taschenlampe geschnappt hatte, sah ich auch, um was es sich
handelte: ein kleines himbeerrotes Unterseeboot, das zwischen zwei Schornsteinen bequem parkte.
"Ich werd verrückt", hauchte ich erschüttert.
"Stell dir vor, es kann fliegen", säuselte der Krake, hüpfte auf dem
Federbett auf und ab.
"Aber - kann es auch tauchen?" hakte ich nach.
"Ohh, du machst wohl Witze", prustete mein kleiner Freund vor Lachen, wobei er wieder
eine gewisse Portion Schleim absonderte.
"Also, auf geht's! Koffer packen! Bis morgen bist du wieder hier", versprach er
mir.
Da hatte er mich auf seine spezielle Art und Weise schon überredet und ich stopfte meinen
blauen Reiserucksack mit allem Wichtigen, wie Schlafsack, Kulturbeutel, Wechselwäsche und
einem kleinen roten Gedichtband. Schließlich verließen wir meine Berliner Wohnung
durch das kleine Dachfenster - eben ganz normal!
Irgendwie erinnerte mich das U-Boot an einen Zeichentrickfilm, aber - wie ich es auch drehte und
wendete - es war absolut real.
"Ja, die Beatles haben unsere Konstruktion geklaut, aber unseres ist besser",
bekräftigte Plitsch-Platsch, schloss die Luke und betätigte den großen Hebel im
Kommandoraum.
Ich schnallte mich an, saß zwischen surrealen Armaturen eingepfercht auf dem Besuchersitz.
Durchs Bullauge begrüßte mich das nächtliche Berlin.
Mit einem Ruck ging's endlich los. Es folgte ein abenteuerlicher Flug scharf übers
Brandenburger Tor, an den Obstbäumen des Alten Landes vorbei und im Tiefflug über
Hamburg. Dort verfehlten wird den Michel nur knapp, was Plitsch-Platsch lediglich mit einem
"Oops!" quittierte.
Nach nur einer Stunde Flug tauchten wir in der Nordsee endlich ins kühle Nass.
"Was ist, wenn uns die deutschen Behörden als UFO eingestuft und uns abgeschossen
hätten?" erkundigte ich mich bewegt.
"Nun, dann wären wir wahrscheinlich tot, oder nicht?" piepste es zurück.
"Andererseits machen sie das um diese Tageszeit aber nie", beruhigte mich der
Zwergkrake.
Es folgte eine faszinierende Reise durch die Nordsee und über den Ärmelkanal in den
rauen Atlantik. Merkwürdigerweise ging alles recht schnell, als ob das Meeresgefährt
einen Turbogang hätte.
Und überall hatten wir Vorfahrt: Ein kleiner Schildkrötenschwarm stand Spalier,
ließ uns durch. Einmal verharrten drei verdutzte Seehunde in ihrer Bewegung, und sogar eine
Herde Menschenhaie empfing uns mit einem typischem Gruß aus der Armee. Bis auf eine mir
wohlbekannte Menschenhaidame, die unserem Boot zu folgen schien. Mir schwante Übles, musste
ich sie doch einst mit einem Regenschirm aus meiner Wohnung vertreiben. Ängstlich duckte ich
mich in meinen Sitz.
Nach wenigen Stunden bekam das Wasser eine dunkelblaue Farbe, wurde schließlich schwarz.
Wir erreichten den Meeresgrund, wo sich struppige Algen und leuchtende Kleinstlebewesen
gemütlich räkelten.
Den Horizont füllte ein riesiges schwarzes Etwas aus. Bei genauem Hinsehen erkannte ich die
Umrisse eines gewaltigen Schiffes, dem ein Teil fehlte.
"Bitte sehr", surrte Plitsch-Platsch.
"Hier eure und jetzt unsere Titanic!"
Nach einem aufwändigen Andockmanöver an der Hauptschleuse öffnete der Tintenfisch
die Luke und wir stiegen ins Schiff um. Seltsam, wie in Trance bemerkte ich, dass ich wirklich
keine Schwierigkeiten hatte, Luft zu holen. Wie machten sie das nur?
Wir erreichten den Hauptgang und schwammen die berühmte Empfangstreppe herunter. Dort
wartete die gesamte Familie meines Freundes.
Er stellte mich allen vor, was bei zehn Kindern, unzähligen Vettern und anderen Verwandten
sehr lange dauerte. Ich konnte mir auch nicht alle Namen merken, reagierte aber verwundert, weil
alle nahezu gleich aussahen.
Aber nun war es mir am liebsten zu wissen, was ich überhaupt für ihn tun konnte. Da
senkte er die Augen, erbläute abermals, führte mich zu einer kleinen Luke eines
Nebenraumes.
Mit den Worten "Dies ist mein Zimmer!" präsentierte er mir seinen Verschlag mit
Stolz. In der Ecke lümmelte sich verschämt eine kleine Liege, daneben ein kleines
Kofferradio und an der Wand thronte ein großer Kühlschrank.
"Für den Nachschub. Fisch!", erklärte er mir.
"Und das", er deutete auf die Luke, "ist das Problem. Hier kommen diese
blöden Rochen nachts immer in mein Zimmer, stören mich und beißen! Ich schaffe es
leider nicht, das Glas zu verschließen. Auch keiner meiner Verwandten. Ich hoffe, du
könntest das tun!?"
"Waaas?? Du hast mich nur wegen einer kleinen Luke geholt? Das gibt's doch wohl gar
nicht!" Da wusste ich nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollte.
"Na jetzt mach halt", drängte er mich. "Nachts kommen sie, um uns zu
fressen!"
Ich merkte, wie er gerade wieder die Augen schloss, und sich schon wieder verfärbte.
Müde winkte ich ab, bewegte mich Richtung Bullauge, stemmte mich donnernd gegen das offene
Glas.
Da näherten sich zwei furchterregend dreinblickende Fischaugen, die einem dunkelblauem
Manta gehörten. Gerade wollte er seine Nase - falls er eine solche besaß - durch die
Luke stecken, als ich ihm mit dem Kofferradio einen Hieb versetzte, dass er benommen
rückwärts taumelte und die Augen verdrehte. Endlich schnappte das Fenster ein und ging
zu. Worauf unser Manta recht dämlich aus der Wäsche schaute.
Verzückt klatschte der kleine Tintenfisch mit seinem Tentakeln und piepste:
"Aber leg dich nun hin! Nach diesem Kraftakt bist du doch sicher müde!"
Dankbar streckte ich mich auf dem Boden der Kajüte aus, nachdem Plitsch-Platsch eine
karierte Decke ausgebreitet hatte.
Alsbald fiel ich in einen wohltuenden Schlaf.
Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben, wie bei den
Pfadfindern. Aber etwas war komisch! Es fehlte was - das Meer!
Um mich herum war alles trocken; obendrein erkannte ich die vertraute Umgebung meines
Zimmers.
Was war nun schon wieder los? Hatte ich am Ende alles nur geträumt oder hatte mich
Plitsch-Platsch schon wieder zurückgebracht ? In Panik sprang ich aus dem Bett, entdeckte
nirgendwo Spuren des Tintenfisches! Auch die Tüte Corn Flakes stand unberührt im
Wandschrank. Seltsam.
Unsicher legte ich mich wieder hin. Dann war es doch nur ein Traum und mein kleiner, glitschiger
Freund war niemals hier. Ob ich ihn jemals wieder treffe?
Dabei hatte ich die ganze Zeit so ein untrügliches Gefühl: himbeerrotes U-Boot und
tief im Ozean atmen können - so ein Schmarrn!
Am nächsten Morgen, als ich das Dachfenster öffnete, um es zu reinigen, entdeckte ich
oben draußen keinerlei Spuren. Alles weg, wie ein Spuk.
Ich schaltete das Radio ein, bekam mit, dass Wowi - unser regierender Partymeister - wieder eine
ungewöhnliche Festlichkeit eröffnete, als es an der Tür klopfte.
Ah, ein Einschreiben vom Verlag, dämmerte es mir.
Flugs machte ich auf. Doch tief saß der Schock. Vor mir stand mein triefnasser Rucksack,
als ich ein dünnes Stimmchen vernahm: "Na Servus! Den hattest du nur
vergessen!".
Vorsichtig sah ich um die Ecke des Ganges. Ich erstarrte. Da glotzten zwei mir bekannte
Fischaugen ziemlich blöd aus der Wäsche und irgendwie sehr ärgerlich, fast
wütend. Der blaue Körper dieses "Kampfrochens" steckte in einem grauen
Regenmantel, den Kragen hochgezogen. Den Kopf bedeckte ein typischer Gangsterhut und auf seiner
rechten Schulter schleppte er umständlich eine alte Kalaschnikoff.
Und sein Gesicht verformte sich zu einem hämischen Grinsen.
"Hab dich, du Saukerl. Weißt du noch? Ich sag nur 'Luke'! "
Joachim Eiding
music4ever.de - Extra - Nr. 67 - 06/12