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Glitzerfummel, Lipstick und Nietenstiefel

Vage deutet der bizarr kostümierte kosmische Weltraum-Held, mit pinkfarbenem Haar und surrealistischem Make-up, auf der Bühne in die unendliche Ferne des Alls. Und lädt die Konzertbesucher auf eine Reise zu Sirius und Wassermann ein. Schnell checkt er noch die Space-Tickets und auf geht's. Vorbei an den bunten Ringen des Saturn, den Marsmonden und der Eishölle Pluto. Womöglich zu einer fremden Welt, in der unvorstellbar verformte Drachenwesen die Geschicke ihres Reiches mit unnachgiebgier Härte lenken. Was die Sternenfahrt der Passagiere unter Leitung von Ziggy Stardust in eine planetarische Katastrophe münden ließe. Doch am Ende der Rock-Show fällt die Maske des androgynen Starship-Captains, und der theatralische Visionär verwandelt sich wieder in Mr. David Bowie - den britischen Avantgarde-Rocker aus London. Keine Frage, standen Stanley Kubricks "2001: A Space Odyssey" und "Clockwork Orange" Pate für diesen transsexuellen Glitzer-Act in zunächst nur englischen Musikhäusern. Schnell jedoch schwappte dieser "spätrömisch-dekadente" Stil über den Großen Teich, bescherte Bowie und seinen Kollegen in den Staaten viele Pole-Positions. Mit dem Kult-Album "The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars" legte der stets ein wenig schwebende Engländer 1972 einen Meilenstein der Popmusik vor.

BolanMarc Bolan, Foto: blogcdn.com
 

Marc Bolan, Vater des Glam-Rock

Eigentlich ging diese damals fundamental neue Art der Pop-Musik nicht auf den exaltierten "dünnen weißen Herzog" zurück. Eher verweisen Musik-Redakteure dabei auf den zierlichen Gründer der Kult-Gruppe T. Rex - den viel zu früh verstorbenen Marc Bolan. Vor einem Bühnenauftritt streute nämlich eine Mitarbeiterin im Frühjahr 1971 dem Idol mit der Löwenmähne einmal bunte Glitzer ins Gesicht. Daraus formten einige findige Journalisten den bis heute prägenden Begriff "Glitter Rock", auch als "Glam Rock" bekannt. Fortan zeigten sich (meist britische) Interpreten wie David Bowie, Gary Glitter, Mott the Hoople, Roxy Music, Slade, The Sweet und eben T. Rex. Ab etwa 1974 mischten auch Bands wie Mud, Sparks, Glitter Band, Hello, Pilot, David Essex, Wizzard, The Rubettes, Steve Harley & Cockney Rebel, Suzi Quatro und sogar Queen mit. Ob die in den 70ern ausgeflippte Piano-Diva Elton John ebenfalls dazugehörte, gilt bis heute als umstritten. Vielen Fachleuten erschien seine Bühnen-Show, abgesehen vom künstlerischen Wert, doch eher als aufgesetzt, weshalb der gute Reginald manchmal auf der Negativ-Liste des "Fake-Glam" landete.

SweetThe Sweet, Cover 'Ballroom Blitz', cdn.mos.musicradar.com

Was zeichnete den Glitter-Rock musikalisch aus? Ursprünglich als Antithese zum opulenten Rock von etablierten Gruppen wie Pink Floyd, Emerson, Lake & Palmer, King Crimson und Yes gedacht, bauten die Vertreter der Glam-Zunft verstärkt das Keyboard in den harten Rock-Sound ein. Dadurch versuchten die Künstler, eine größere Harmonie zu erreichen und die Ästhetik des Show-Acts zu vergrößern. Dazu gehörte freilich auch der visuelle Genuss: Die meist stark geschminkten Protagonisten dieser Gegenkultur setzten sich mit phantasievollen Glitzer-Kostümen und hohen Plateauschuhen von der Konkurrenz ab. Indes lästerten böse Zungen, dass insbesonders die Herren von "Sweet" mehr Zeit vorm Schminktisch verbrachten als sie zum Stimmen ihrer Instrumente benötigten. Jedenfalls zündete ihr Musik-Video zum Smash-Hit "Ballroom Blitz" (1973) wie eine Rakete, wobei sich Frontmann Brian Connolly und Bassist Steve Priest - im Schmetterlingsdress - beim Gesang abwechselten.

 

Er oder sie?

Besonders in Nordamerika provozierte dieses schrille Outfit viele Musikfans, sprengten die Glam-Musiker doch die gesellschaftlichen Regeln, in dem sie sich sexuell nicht gern festlegten. Was den Kärntner Alleskönner Udo Jürgens Ende 1973 zu einer Liedzeile "Er oder sie? Bei manchen weiß man es nie" inspirierte. Wahrlich, Glam bedeutete mehr als nur eine neue Art der Musik - Interpreten wie Marc Bolan und David Bowie legten Wert auf Transparenz, selbst wenn sie dabei das eine oder andere Tabu brachen. Gleichwohl setzte sich die Schar der Interpreten dieser Ära sehr heterogen zusammen, erwies sich als ein bunter Cocktail voller Frische und ausgefallener Ideen. Der Reigen spannte sich von den Protagonisten wie Bolan und Bowie, die ihren eigenen ausgefallenen Sound prägten, über typische Bubblegum-Freaks wie Gary Glitter und seine Begleit-Combo, die "Glitter Band", und die soften Töne von David Essex und Barry Blue bis zu härteren Rhythmen wie zum Beispiel Sweet, Slade und Mott the Hoople. Dann gab's noch eigenwillige Typen wie Steve Harley - ein Ex-Journalist, der mit seinen "Cockney Rebel" schräge Musik zum Credo auserkor.

Alles begann, wie eingangs erwähnt, im Jahr 1971, als eine damalige Betreuerin von T. Rex, eine gewisse Chelita Secunda, Marc Bolan vor einem Auftritt glitzernde Sternchen unter die Augen klebte. Zu dieser Zeit, als David Bowie noch an seinem Karrierestart bastelte, war der schmächtige Engländer längst ein Star. Sein Titel "Ride A White Swan" (1970) erklomm, nach anfänglicher Stotterfahrt, in der heimischen BBC glatt Rang 2. Und es sah ganz danach aus, als wolle Bolan, zusammen mit Kumpel Mickey Finn bei "T. Rex" engagiert, den Spitzenplatz verteidigen. Sein unnachahmlicher Gesangsstil "wie ein arabischer Minarettsänger mit flattriger Stimme und heulendem Vibrato" verzauberte Europas Teens und machte aus ihm ein echtes Teenie-Bopper-Idol, dessen Platten auch dann über die Ladentheke wanderten, wenn er Softes produzierte. Die "T.Rextasy" umklammerte bald den ganzen Kontinent; dafür sprachen Mega-Seller wie "Get It On" und "Jeepster" (beide 1971) und das unvergleichliche "Hot Love" aus dem gleichen Jahr, mit der endlos langen Coda.

 

Ringo Starr und der Ritter

Auf dem Zenit des Erfolges schlug die Musikwelt Mr. Bolan zum Ritter: Kein Geringerer als der Ex-Beatle Ringo Starr bannte 1972 mit dem Film "Born to Boogie" Leben und Werk des Teenie-Idols auf Zelluloid, hob besonders ein Konzert im "Empire Pool" in Wembley hervor und diverse Jam-Sessions. Mit Erfolg, denn seine Fans verlangten in den Plattenläden immer noch sein Vinyl ("Children Of The Revolution", "20th Century Boy"). Doch schon ein Jahr später bröselte es erstmals im Gebälk; nach "The Groover" (1973) sollte Bolan so schnell kein Top-Ten-Titel mehr gelingen. Irgendwie schien das Konzept ausgereizt; die Langrillen "Zinc Alloy And The Hidden Riders Of Tomorrow - A Creamed Cage In August" (1974) und "Bolan's Zip Gun" (1975) erreichten ihr Publikum nicht mehr. Eine Herzattacke zwang ihn 1974 ohnehin zu einer Pause; das Comeback von 1977 scheiterte. "Ich lebe in einer Schattenwelt von Drogen, Schnaps und schrägem Sex", bekannte der einstige Glam-Star am Ende seiner Karriere. An einem hässlichen 16. September des Jahres 1977 beendete ein Autounfall gnadenlos das Leben des jungen Musikers und damit alle Hoffnung auf ein Revival der legendären Band.

Doch zurück zur Musik: Wenn es neben Bowie und Bolan noch einen weiteren Taufpaten für diese Stilrichtung gab, dann unbedingt den mittlerweile (wohl zu Recht) in Ungnade gefallenen Gary Glitter mit seiner durchaus innovativen Bubblegum-Musik. Sein gut sechsminütiges "Rock And Roll", welches er 1972 in zwei Teilen auf den Markt warf, verschaffte ihm mit seinem dumpfen Sound einen glänzenden Start seiner Karriere. Weitere Songs, deren Gesang teils aus weiter Ferne zu stammen schien, festigten seinen immensen Erfolg. Dieser überstieg bald sämtliche Erwartungen und machte ihn für viele zum Inbegriff des Glitter-Rock und auch zum Namensgeber. Seine pompösen Auftritte in der Pose des Rockstars, mit bis zum Bauchnabel offen getragenem, mit Pailletten bestickten Hemd und breiten Koteletten, wirkten häufig wie eine Persiflage auf Elvis. Selbst seine Begleit-Combo, die Glitter Band, brillierte dann mit eigenen Tracks wie "Angel Face", "Let's Get Together Again" (beide 1974) und "Goodbye My Love" (1975).

 

Die Schattenmänner

Als vierte tragende Säule des Glam erwies sich das Songwriter-Gespann Nicky Chinn und Mike Chapman ("Chinnichap"). Schon früh nahmen sie Künstler wie "The Sweet", Suzi Quatro und "Mud" unter ihre Fittiche, schrieben und produzierten für ihre Schützlinge berühmte Songs wie "Teenage Rampage", "Can The Can" und "Tiger Feet" (alle 1973). Während die Bands jedoch im Rampenlicht standen und den Ruhm ernteten, blieben für Chinn und Chapman "nur" die Pfund-Sterling-Millionen. Daher fragten sich viele Popfans, wer denn die zwei "Schattenmänner" eigentlich waren. "Sie kommen ohne Glitzer-Make-up aus und singen niemals ihr eigenes Material", stellte der englische Musikjournalist Nigel Thomas schon 1974 fest - also zu der Zeit, als die beiden Produzenten die Charts beherrschten. Ferner beschrieb sie der britische Schreiberling als smarte, perfekt gekleidete Business-Men, als "geschäftstüchtige Kreativzellen mit Selbstbewusstsein". "Wir sind absolut davon besessen, die besten Songschreiber der Welt zu sein", bestätigte Nicky Chinn einst in einem Interview.

Ihr Konzept klappte: Die von ihnen produzierten 45er, meist aus dem Hause "RAK", gingen weg wie warme Semmeln. Auch die der nur 1,50 Meter großen Bassistin und Sängerin aus Detroit, Michigan: Suzi Quatro. Über eine Mädchenband, die weltweit US-Truppen betreute, beispielsweise in Vietnam, landete sie in England. Dort nahm sie der clevere Plattenboss Mickie Most unter Vertrag und gab sie schließlich in die Obhut von Nicky und Mike. Diese schrieben der zierlichen Rock-Lady im engen Lederdress einige kernige Stampfer auf den Leib: "Can The Can", "48 Crash", "Daytona Demon" (alle 1973), "Devil Gate Drive", "Too Big" und "The Wild One" (jeweils 1974). Obwohl sich nachfolgende Singles wie "I May Be Too Young" (1975) oder "Tear Me Apart" (1977) nicht mehr so gut verkauften, blieb Suzi ihrem Songwriterteam treu, und das zu Recht. 1978/79 folgten weitere Tophits: "If You Can't Give Me Love", "The Race Is On", "Stumblin' In" (ein Duett mit Smokies Chris Norman) und "She's In Love With You".

 

Racey für Mud

Ein anderer Vertreter des Glam-Rock, heute fast vergessen, betrat ebenfalls gegen 1972 die Musikbühnen: die Herren Gray, Mount, Stiles und Davies von "Mud". Sie arbeiteten sich schon seit 1968 durch die Clubs in England, bevor auch sie 1972 bei Mickie Most landeten, der sie erstmal in farbenfrohe, coole Klamotten steckte. Auch hier verpassten ihnen die zwei "Kaugummi-Fabrikanten" Chinn und Chapman heiße Partykracher und produzierten sämtliche Platten. Während die ersten zwei 45er "Crazy" und "Hypnosis" (1973) noch recht zahm klangen, ging beim Party-Rock'n'Roll der folgenden Singles "Dyna-Mite" (1973), "Tiger Feet", "The Cat Crept In" und "Rocket" (alle 1974) kräftig die Post ab. Nach den eher softeren Hitsongs "The Secret That You Keep", "Moonshine Sally" und "Oh Boy" - eine alte Buddy-Holly-Nummer im reizvollen A-cappella-Gewand -, blieben die Erfolge aus, und die Jungens kehrten dann 1975 Chinn und Chapman sowie Most den Rücken. Zwar konnte das Quartett mit den durchaus passablen Titeln "L'L'Lucy" und "Show Me You're A Woman" (beide 1975) noch eigene Charttreffer verbuchen. Jedoch fehlte den Musikern das Charisma, und "Mud" verschwand schon bald von der Bildfläche. Mickie Most ersetzte Mitte der 70er die immer noch bekannte Glam-Rock-Truppe in seinem Label übrigens durch die Newcomer "Racey".

Größtes Zugpferd der zwei Stubenhocker und waren zweifelsohne "The Sweet". Die Vier aus dem englischen Middlesex galten als die Speerspitze der Glam-Ära und befreiten sich recht schnell aus den künstlerischen Klauen der Plattenbosse. Mit Fetzern wie "Hell Raiser", "Block Buster!" und "Ballroom Blitz" (alle 1973), die zunächst noch aus der Feder ihrer zwei Mentoren stammten, dann sogar mit eigenen Song-Material wie beispielsweise "Fox On The Run" und "Action" (beide 1975), kreierten sie gar einen eigenen, rockigen Sound. Alben wie "Sweet Fanny Adams" und "Desolation Boulevared" (beide 1974) untermauerten ihre künstlerische Vielfalt. Wie der Pop-Freak wissen dürfte, gab es noch etwas anderes, wodurch sich Sweet von den anderen Künstlern im Chinnichap-Haus absetzte: Während Suzi Quatro, Mud, Racey und all die anderen bei Mickie Mosts "Gemischtwarenladen" RAK veröffentlichten, waren die Mannen um Brian Connolly bei RCA unter Vertrag.

BowieDawid Bowie, Foto: roma.theoffside.com
 

Glam over America

Ja, Glitter- oder Glam-Rock verstand sich eben nicht als einheitlicher Musik-Stil; vielmehr als eine Gegen-Bewegung zu etablierten Kult-Bands, die gleich mit mehreren Sattelschleppern zu Konzerten anrückten. Eigentlich erstreckte sich dieses Phänomen nicht nur auf die britische Insel; im "Land der unbegrenzen Möglichkeiten" passten Interpreten wie Bürgerschreck Alice Cooper und die Masken-Schocker Kiss mit Feuerschlucker Simmons wunderbar dazu. Coopers Hits "School's Out" (1972) und "No More Mr Nice Guy" (1973) sowie die Kiss-Nummern "Rock And Roll All Nite" (1975), "Shout It Out Loud" und "Detroit Rock City" (beide 1976) ergatterten jeweils hohe Billboard-Plätze.

So rollte der Rubel einige Jahre, und die Kassen der Plattenbosse, Musik-Manager, Produzenten, Songwriter und natürlich auch der Künstler klingelten Sturm. Bis eines schönen Tages nichts mehr ging. Kein Vinyl-Freak mochte mehr in Glam-Rillen investieren; der Spuk verflog. Einschlägige Gruppen wie beispielsweise Hello, Kenny, Pilot und Mud versanken ab 1977 in den Tiefen des Pop-Ozeans. Andere wie Showaddywaddy, Rubettes, Slade und Roxy Music stellten sich stilistisch um: zu simplem Rock'n'Roll, Country &Western, Soft-Pop oder gleich Hard-Rock. "Glam-Rock ist am Ende", prophezeite "Metal Guru" Marc Bolan bereits 1974. Und die ehemalige Glam-Ikone David Bowie wanderte mit den Songs "Young Americans", "Fame" und "Golden Years" schon 1975 zur Soul-Musik ab. Zu stark beeinflussten der Punk und die Disco-Welle ab Mitte der 70er die Radio-Stationen zu beiden Seiten des Atlantiks.

Was blieb vom Glam? Nur ein bisschen Wehmut, ein paar Original-45er und Boots mit hohen Heels? Nicht ganz, denn ohne diese Pop-Epoche gäb es sicher keinen Punk-Rock und auch keinen New Wave. Noch Jahre später hielten diverse Interpreten wie Pulp und Suede die Fahnen dieser großen Zeit hoch; Musikkenner ordnen selbst die Gothic-Acts Lordi und Marylin Manson entfernt diesem Musik-Stil zu. Also, liebe Fans des Glitter-Rock, mögen die Zeiten vorbei sein, die Erinnerung bleibt. Wie das funktioniert? Ganz einfach, drehen wir einfach das Rad der Geschichte zurück, an den Anfang: Vage deutet der bizarr kostümierte kosmische Weltraumheld, mit pinkfarbenem Haar und surrealistischem Make-up, auf der Bühne in die unendliche Ferne des Alls …

 

Joachim Eiding

 

Quellen: doremi.co.uk - childrentooth.de - musicline.de - roxikon.de - 70er.net - groups.uni-paderborn.de - bookrags.com - oldiesbutgoldies.foren-city.de - itsoul.atspace.com - homeofrock.de - 70sglamrock.com - evolver.at - Das neue Rock-Lexikon, Barry Graves, Siegfried Schmidt-Joos und Bernhard Halbscheffel, Rowohlt, 1999

 

 

music4ever.de - Anekdote - Nr. 57 - 6/11