Kaum suchte das Schicksal eine Sängerin so grausam heim wie die US-amerikanische Folk-Queen Judy Collins, stets die Nummer Zwei hinter der großen Joan Baez: Mit gerade mal zwölf Jahren erkrankte Judy an Kinderlähmung; elf Jahre später litt die sozial engagierte Songwriterin an Tuberkulose. Damit nicht genug, verlor sie gar im Jahr 1992 ihren einzigen Sohn Clark durch Suizid. Manch anderer wäre an diesen Schlägen komplett am Leben zerbrochen. Zwar kämpfte Judy viele Jahre mit (oder gegen) Bruder Alkohol; insgesamt jedoch steckte sie nie auf und fand ihren Weg in die Welt zurück. Und schenkte ihrem Publikum glanzvolle Zauberlieder wie "Amazing Grace" (1970) und das fast noch schönere "Send In The Clowns", welches 1972 zum ersten Mal erschien, um erst drei Jahre später die Charts zu erobern. Ursprünglich stammten zwar beide Songs aus fremder Feder, blühten jedoch im A-cappella-Kleid der Judy Collins neu auf.
Von Mozart bis Dylan
Am 1. Mai 1939 als Tochter eines blinden Radio-Moderators in Seattle, Washington, auf die Welt gekommen, übte sie sich im zarten Kindesalter am Piano, als Mozart-Interpretin. Bis ihr Interesse an der Musik von Woody Guthrie und Pete Seeger erwachte. Fortan stand sie auf den Bühnen der Clubs des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village und begleitete sich selbst auf der Gitarre. Erst 1961 gelang ihr mit ihrem ersten Album "Maid Of Constant Sorrow" - dieser Titel wirkte irgendwie als Spiegel ihres Lebens - der Durchbruch in der englisch-sprachigen Popwelt. Während dieser Zeit spielte die schlanke Sängerin mit der flötenähnlichen Altstimme noch klassische Folksongs weltbekannter Kollegen wie Tom Paxton, Phil Ochs und auch Bob Dylan. So nahm sie eigene Versionen von Stücken wie "Mr. Tambourine Man" und "Turn! Turn! Turn!" auf.
Erst mit ihrer LP "Wildflowers" wagte sie 1967, selbst zu schreiben. Mit Erfolg, denn die Langrille punktete bei den Konsumenten und ergatterte sogar einen Grammy. Und die ausgekoppelte Single "Both Sides Now" sprang auf Rang 8 der US-Billboard-Charts. In den 70ern mutierte Judy zur festen Folk-Größe: Ob nun eigene Songs wie "My Father" und "Born To The Breed", oder Stücke anderer Autoren ("Amazing Grace") - Judys Platten gingen weg wie warme Semmeln. Doch erschöpfte sich ihr Wirken nicht auf die Musik. In den frühen 60ern, nachdem sie bereits von der bitteren Seite des Lebens kosten musste, zog sie als überzeugte Pazifistin mit Phil Ochs und Pete Seeger durch die Südstaaten ihrer Heimat, um Schwarze an die Wahlurnen zu bringen. Gegen Ende der Dekade sang Judy gegen den Vietnamkrieg. "Ich glaube, dass unsere Massengesellschaft ihren besten und wahrhaftigsten Ausdruck in der Popmusik gefunden hat. Und ich versuche stets, Lieder zu finden, in denen man das Wesen unserer Gesellschaft wie in einem Spiegel erkennen kann", erklärte die Künstlerin 1967. Jedoch entglitt ihr, so die Kritiker, manchmal die aggressive Botschaft der Songs.
Ibsen, Clinton und die NASA
Während ihre Lieder weiterhin als Vinyl über die Ladentheke gingen, entdeckte Judy noch andere Facetten an sich: So spielte sie 1969 beim New Yorker Shakespeare-Festival in Ibsens "Peer Gynt" die tragische Rolle der Solveig, die ihr ganzes Leben lang auf ihren Liebsten, den Titelhelden, warten muss. Gegen Ende der 80er startete sie, vom Show-Business enttäuscht, mit einem Augen-Gel eine eigene Kosmetik-Kollektion. Musik nahm sie nur noch als ein gesellschaftliches Ereignis wahr, besuchte verschiedene Benefiz-Galas. 1993 joggte sie sogar mit Bill Clinton, der im Gegenzug seine Tochter Chelsea nach Judys Chanson "Chelseas Morning" taufte. Zwei Jahre später debütierte die engagierte Musikerin schließlich noch mit einem Buch - ihrem Roman "Schamlos". Und 1999 klopfte die amerikanische Weltraumbehörde NASA bei Frau Collins an, bat um einen Song.
Bleibt die Frage, ob sich Judy Collins heute noch als Musikerin wohl fühlt. Jedenfalls erschien 1993 als Hommage an Mr. Zimmerman ihr Werk "Judy Sings Dylan - Just Like A Woman", ein Jahr darauf "Shameless" (zeitgleich zum Roman) und zur Jahrtausendwende dann das Weihnachtsalbum "All On A Wintry Night". Als bemerkenswert gilt auf jeden Fall "Democracy" von 2004 - eine Sammlung eigener Fassungen von Kompositionen des kanadischen Poeten Leonard Cohen ("Suzanne"). Und was ihre Tourneen betrifft, so verspürt die exponierte Sängerin wohl keine Lust auf Pop-Rente. Ihre Konzertliste liest sich wie eine Landkarte der USA und Großbritanniens: Bis etwa April nächsten Jahres gastiert Judy Collins beispielsweise in Saint Louis, Missouri, Harrisburg, Pennsylvania, und New York. Diesseits des Großen Teiches dürften sich Folkfreunde in London, York, Sheffield und auch Belfast schon freuen. Als ein Reporter sie kürzlich fragte, wie sie wohl ihr Leben beschreiben würde, lachte sie: "Erstaunlich. Aufregend. Zum Teil, weil ich durch so viel durch musste."
Joachim Eiding
Quellen: judycollins.com - musicline.de - allmusic.com - muse-magazin.de - Das neue Rock-Lexikon, Barry Graves, Siegfried Schmidt-Joos und Bernhard Halbscheffel, Rowohlt
music4ever.de - Was macht eigentlich ... - Nr. 39 - 12/09