In allen Gegenden der Welt haben sich im Laufe der Zeit eigene Musikstile entwickelt. Nur wenige aber sind so beeindruckend und ausdrucksstark, dass sie über den schmalen Tellerrand der heimatlichen Region hinaus wahrgenommen werden und internationale Aufmerksamkeit erhalten. Dazu zählen sicherlich, neben dem Blues aus dem nördlichen Mississippi-Delta und dem argentinischen Tango, der in den Hafenkneipen und Bordellen von Buenos Aires entstand, auch der andalusische Flamenco.
Carmen und die Bluthochzeit
In hohen Wellen wiederholen sich Flamenco-Erfolge, die weltweit für Aufsehen sorgen. Die letzte Lawine wurde von den Gipsy Kings mit ihrer Adaption von Paolo Contes "Volare" und anderen Welthits losgetreten. Auch wenn die Gipsy Kings selbst nicht aus Spanien sondern aus Südfrankreich stammen, so emigrierten doch ihre Vorfahren aus Spanien. Zuvor konnte man den derzeit wohl bekanntesten und besten Flamenco-Gitarristen Paco de Lucía in den Filmen von Carlos Saura hören und sehen: "Bluthochzeit" (bodas de sangre, 1981) und "Carmen" (1983). Besonders in "Carmen" sind die drei wichtigsten Bestandteile des Flamenco enthalten, der Gesang einer Einzelstimme, die Gitarrenbegleitung und der Tanz. Dabei tritt die Tanzkompanie in Sauras Film dem gängigen Vorurteil eines weichen und geschmeidigen Flamenco entgegen, wie man ihn so oft auf den internationalen Bühnen bei Georges Bizets Oper begegnet. In der Choreographie von Antonio Gades zeigen dessen Tänzer die herbe Schönheit der Flamenco-Tänze. Sie erinnern an wild gewordene Stiere, die in eine Stampede auf dem glatten Bühnenboden ausbrechen, dabei aber nie die Kontrolle über ihre Bewegungen verlieren.
Mit dem formvollendeten Flug eines Flamingo haben diese Tanzszenen nichts gemein. Fälschlicherweise wird jedoch immer wieder behauptet, der Begriff Flamenco spiele auf den Flamingo an, der auch im Mündungsgebiet des Guadalquivir, des größten andalusischen Flusses, beheimatet ist. Umstritten ist der Ursprung des Wortes Flamenco weiterhin, und die Experten haben sich bis heute nicht auf eine einheitliche Linie festgelegt. Die Anspielung auf die rosaroten Vögel, die mit der kunterbunten Kleidung der damaligen Flamenco-Spieler begründet wurde, schließt man ebenso aus wie die Begründung, das "Flamenco" genannte Messer sei der Namensgeber. Auch der Bezug zu den Flamen im niederländischen Flandern, im 16. Jahrhundert unter der Herrschaft Spaniens, oder auf die angeblich germanisch-flämische Herkunft der "gitanos" (spanisch für die Familie der Roma) wird nicht mehr ernstlich behauptet. Nicht gänzlich fallen lassen dagegen die Fachleute eine angebliche Verformung des südspanischen Wortes "gacho" für "gitano" sowie den Slang-Begriff "flamenco", der an der Grenze vom 18. zum 19. Jahrhundert die Bedeutung von protzig, großspurig oder prahlerisch hatte. Am wahrscheinlichsten halten die Forscher allerdings die Verballhornung des arabischen Ausdrucks "Felah-Mengus", womit ein wandernder Landmann bezeichnet wurde.
Was aber ist nun Flamenco?
So umstritten und vieldeutig die Herkunft des Begriffs, so schwierig ist auch die Beschreibung des Flamenco. Einig sind sich Musikwissenschaftler und Volkskundler, dass die verschiedenen Besatzer, Religionen und Volksgruppen, die über die Jahrhunderte, sogar Jahrtausende in Andalusien Fuß gefasst hatten und das Land wieder verließen, ihre Spuren in die Architektur sowie in der Musik eingeprägt haben. Die stärksten musikalischen Einflüsse kommen wie der Name selbst sicherlich von den Arabern, die fast acht Jahrhunderte in Andalusien ansässig waren. Typische Elemente der arabischen Musik, Pentatonik, Viertelhalbschritte, sind im Gesang, Tanz und Rhythmus des Flamenco enthalten. Weitere Bestandteile wie Modulationen und Melismen lassen sich aus der jüdischen Musik ableiten.
Hinzu kommt die Flamenco-Gitarre, die sehr hart angeschlagen wird und vom Musikempfinden der "gitanos" geprägt ist. Noch heute stammen viele der besten Flamenco-Sänger und -Tänzer aus der Volksgruppe der Roma.
Der Flamenco kennt viele verschiedene Spielarten. Aus manchen Bezeichnungen kann man eine eindeutige Zuordnung zu Städten erkennen: Malagueña, Sevillana, Granaina (Granada), Rondeña (Ronda). Andere Flamenco-Titel nehmen religiöse und weltliche Festlichkeiten zum Anlass. Dementsprechend ist die Musik mal langsam, mal rasend schnell. Immer jedoch kann der Flamenco mit den geringsten Mitteln aufgeführt werden. In Andalusien kann es jederzeit passieren, dass drei, vier Leute auf der Straße einen Flamenco aufführen. Dazu benötigen sie nur eine Stimme - und ihre Hände. Mit dem Klatschen der Hände, dem "toque de las palmas", wird der Rhythmus vorgegeben, zu dem gesungen und auch getanzt wird. Eine sehr archaisch anmutende Art, Flamenco zu gestalten. Was allerdings über die Grenzen Spaniens an Flamenco hinausschwappt, ist meistens den westlich geprägten Ohren angepasst.
Unabhängig vom internationalen Erfolg: Für die Weiterentwicklung des Flamenco ist noch immer die Wiege des Flamenco entscheidend, sein wärmstes Nest, Andalusien. Der "flamenco puro", der reine Flamenco, ist für mitteleuropäische Ohren äußerst gewöhnungsbedürftig. Die Melodien sind oft sehr monoton und in sich verschlungen, werden immer nur von einer Einzelstimme gesungen und wirken äußerst arabesk.
Ein Schrei aus der Tiefe der Seele
Am wichtigsten jedoch ist für jeden, der Flamenco überzeugend zum Ausdruck bringen will, dass er von der Musik "besessen" ist, dass er den "duende" in sich weckt. Nur wer den "duende" in sich spürt, der tief in der menschlichen Seele verborgen ist, kann den Geist des Flamenco atmen, ausdrücken und auf andere übertragen. Den Ursprung des Worte vermutet man im arabischen "Dschinn", einem bösen Dämon, der für Verwirrung schafft und zugleich in die Ekstase und zum Ausflippen führt. Ein guter Flamenco ist ohne den "duende" nicht denkbar.
Beim Flamenco wie beim Blues und beim Tango führten die Einflüsse fremder Kulturen und deren Einbeziehung wie auch der Widerstand dagegen zur Betonung des Singulären, zu Musikformen, die einzigartig in der Welt und von Außenstehenden nur unzulänglich nachzuvollziehen sind.
Wer kann die erlittene Niedertracht anderer, wer die bitteren Schmerzen, die bleigraue Trauer, die unwiederbringlichen Verluste und die verzweifelte Wut der leidenden Menschen wirklich verstehen? Wie bringt man die quälenden Torturen von leibeigenen und rechtlosen Sklaven zum Ausdruck? Wie die eklatante Ungerechtigkeit der von Fremdherrschaft und Großgrundbesitzern Ausgebeuteten?
Die versklavten Schwarzen in den fruchtbaren Flussniederungen der amerikanischen Südstaaten, die mittellosen Bewohner der heruntergekommenen Elendsviertel von Buenos Aires, die entrechteten Tagelöhner und "gitanos" in Andalusien, sie alle fanden den adäquaten Ausdruck ihrer tief verwurzelten Seelenpein in der Musik. Auf den Baumwollfeldern entstand der tief melancholische Blues, in den argentinischen Vorstädten der erotisch aufreizende Tango - und die andalusischen Feldarbeiter und "gitanos" probten den Aufschrei. Denn der Flamenco, der ursprüngliche, der reine Flamenco, ist ein wütender Schrei aus der Tiefe der Seele.
Michael Pohle
music4ever.de - Anekdote - Nr. 28 - 1/09